Wahrheit und Täuschung. Parmenides.
Franz Rieder • (Last Update: 19.11.2019)
Weniger scheint uns dieser Aspekt der Auseinandersetzung mit den Gymnosophisten zu sagen, zumal ja auch bei diesen das Nichts dem des Parmenides doch recht nahe zu kommen scheint. Was aber bedeutend geblieben ist und dies bis heute, ist die Unterscheidung des Parmenides zwischen, lax ausgedrückt, Sein und Schein, zwischen Wahrheit und Täuschung bzw. Irreführung. Und viele haben die Warnung der Göttin fortan befolgt. Alles, was außerhalb von Wissenschaft liegt, wird mit dem Odium der Täuschung und des irreführenden Diskurses belegt, wird schnöde dem Verdikt: man denke das Nichts unterzogen.
Wahrscheinlicher und einigermaßen belegt ist, dass Parmenides die wesentlichen Gedanken der pythagoreischen Schule bekannt waren, soll er doch auch Schüler eines Pythagoreers namens Ameinias gewesen sein. Leider sind kaum authentische Schriften der Pythagoreer gefunden worden, doch deren Rekonstruktion durch andere Quellen zeigt eine durchaus aufregende Richtung des abendländischen Denkens, die auch nachhaltig auf unser Verständnis von Kunst wirkt. So unsicher auch die Sachlage ist, so sehr sich auch die Denkauffassungen unterscheiden und sich auch kaum tragbare Zuordnungen zu den angeblichen Verfassern herstellen lassen, die späten Pythagoreer öffneten den Gedanken der Einheit, wie er auch von Parmenides gedacht worden war, dem Gedanken der Vielheit. Repräsentanten der Vielheit waren die Zahlen. Auf die Idee der Zahl kamen sie – auch wenn diese Geschichten nicht ganz gesichert sind – durch zwei sehr unterschiedliche sinnliche Erfahrungen. Einmal erfanden sie gewissermaßen und in Anlehnung an Nietzsche gesprochen, die Philosophie aus dem Geiste der Musik. Sie erkannten, dass das Spiel der Lyra bzw. deren Harmonien sich in präzisen Zahlenverhältnissen repräsentieren ließ. Wenn die ganze Saite einer Lyra den Grundton erzeugt, so die halbe Saite die Oktave dazu, die gleichwohl auch beim Grundton mittönt. 2/3 der Saite gibt die Quinte, die ebenfalls im Grundton harmonisch mitschwingt und diesen Grundton-Quint-Oktavakkord nannten sie „harmonisch“, übersetzt: gefügt, zusammenpassend, übereinstimmend.
Weiterhin im Geiste der Musik erklärten sie ihre Beobachtung, dass beim Anschlagen eines Saiteninstruments ein in der Nähe befindliches Instrument (Körper) mitschwingt. Diese Übertragung von Schwingungen machten sie zum kosmischen System und somit ihre Erfahrung mit der Musik zum erkenntnistheoretischen Schlüssel der Erklärung der Welt durch eine mathematisch fundierte musikalisch-kosmische Harmonielehre. Wie Verschiedenes zusammenkommt, ahnten, ja wussten sie nun. Dass dabei die Repräsentation von Sein und Denken über allem schwebte, ahnten sie nicht. Zahlen und Zahlenverhältnisse haben in der pythagoreischen Lehre von Anfang an eine zentrale Rolle gespielt und es ist wenig hilfreich, sich am Streit über die sog. Akusmatiker in Opposition zu den Mathematikern zu beteiligen (Walter Burkert/Leonid Zhmud). Was uns zu denken geben soll, ist, dass die Zahlen zum Erklärungsprinzip der Wissenschaft und der Kunst erklärt wurden. Mit den Zahlen bzw. den Verhältnissen von Zahlen unter- und zueinander waren sie in der Lage, Vielfalt in der Einheit zu denken, ohne ein „eigentliches“, vages Sein. Nach Pythagoras nämlich ist „Harmonie die Vereinigung vielgemischter Dinge und die Übereinstimmung verschieden gestimmter Dinge“ und Zahlen und Harmonie „dulden keine Täuschung“.
Ihr mathematischer Optimismus hat sich bis heute nicht abgeschwächt, ist eher angewachsen, zumal die „Mathematik“ als oberste Vertreterin von Wissenschaft das damalige „Inkommensurabilitätenproblem“ mit neuesten Infinitesimalrechnungen beiseite gelöst zu haben wähnt. Dass das so harmonisch scheinende Verhältnis von Kreisumfang und Kreisdurchmesser nicht in einem exakten Zahlausdruck (als Quotient) dargestellt werden kann, dass bei manchen Divisionen das Ergebnis also zu keiner genauen Zahl führte, sondern eine recht unpräzise, irrationale Unendlichkeit erschien, die Anaximander schon im Quotienten von 1:3 als das Apeiron bzw. Infinitum erkannte, dem begegneten die Pythagoräer allerdings einigermaßen virtuos. Sie behielten die Metaphysik der Zahlen und damit den rationalistischen Weg zur kosmischen Wahrheit und exterminierten einfach die irrationalen Verhältnisse zum Alogon. Für die Mathematik waren sie erstmal eine Zeit lang verloren, aber die Kunst und die Politik gewannen bei ihnen. Die Kunst insofern, als sie das Alogon der Zahlen einfach durch die Geometrie ersetzen, also die „Baukunst“ mit Zirkel und Lineal erfanden.
So ersparten sie sich die „unkontrollierbaren“ Berechnungen mit Zahlen und favorisierten fortan immer dann, wenn Zahlen nicht das gewünschte Ergebnis erbrachten, die harmonische Proportion. Das setzte bei den antiken Baumeistern einiges an Kreativität frei und führte letztlich zu den von uns heute staunend bewunderten griechischen Tempeln und anderen Bauwerken, von denen keins in seinen numerischen Proportionen übereinstimmt, aber durch großartige, für uns vollendete Harmonien imponiert.
Wahrheit und Täuschung. Pythagoras und Heraklit.
Weit über die Baukunst hinaus reichte die pythagoreische Idee von Harmonie und Proportion in viele Künste. In der Musik trug sie Melodien und Rhythmen, in der Malerei die geometrischen Abstraktionen. In der Pädagogik zeigte sie ihre fatalen und bis heute noch teilweise prägende Wirkungen wie in der modernen Therapeutik. Sie alle wollen die „Seelen“ harmonisieren, sie mit den Gesetzen in Kosmos und Staat in „Wohlklang“ bringen. Die verborgene „Logik“ der pythagoräischen Nomoi (altgriechisch Νόμοι Nómoi ’nɔmɔɪ̯, lateinisch Leges, deutsch: Gesetze) lässt sich leicht erkennen: hier geht es um größtmögliche Transparenz und damit um größtmögliche Kontrolle. Wie dies politisch ausging, zeigt ein kurzer Blick nach Unteritalien ins 5. Jhd. v. Chr., wo in einer Reihe von griechischen Städten Gemeinschaften von Pythagoreern bestanden, die als soziale und politische Reformbewegung auftraten und mit Berufung auf die Lehren des Schulgründers massiv in die Politik eingriffen. Es kam zu schweren, äußerst gewaltsamen Auseinandersetzungen, die schließlich mit vernichtenden Niederlagen der Pythagoreer endeten. In den meisten Städten wurden die Pythagoreer getötet, wenige hatten das Glück, nur vertrieben zu werden – wir kommen in einem anderen Zusammenhang auf diese Problematik bei den Nomoi des Platon ausführlicher zurück.
Vielheit war vordergründig der pythagoreische Gewinn gegenüber einem Sein, das als Eins, als etwas, was nur mit sich identisch ist, gedacht wurde, ein Gewinn aber, ohne das Momentum der Bewegung. Auch Heraklit aus Ephesus in Kleinasien (ca. 544 – 483) wollte vom Werden nichts wissen, im Gegenteil, selbst die pythagoreische „Einheit der Vielfalt“, hier der Zahlen, reduzierte er auf eine logische „Einheit in der Zweiheit der Gegensätze“ und hinterließ uns damit den Begriff des Widerspruchs und seine begrifflich dialektische Aufhebung. Das klingt schwierig, meint aber nur: nicht nur das, was verschieden ist wie die Zahlen soll in Harmonie sein, sondern auch das Widerstreitende (to kat’ enantioteta). „Das Widerstreitende ist vorteilhaft, und aus dem Wesensverschiedenen erwächst die schönste Harmonie, wie eben alles aus der Entzweiung entsteht.“ (Diels, B 8)
Für Heraklit war das die Arche aller Dinge, hier sah er den Logos als Ursprungsprinzip, als das Prinzip des Widerspruchs, auf den sich später prominent Hegel in seiner Phänomenologie des Geistes und in der Logik explizit berufen sollte. Für seine Zeit war dieses Denken neu, geradezu herausfordernd, denn man verstand nicht, „wie das Zwiespältige mit sich selbst im Einklang sein kann: es ist eine Harmonie des Widerspruchs wie beim Pfeilbogen und der Lyra“ (Diels, B 51). Für die Künste bedeutet das, dass es gerade die Kunst ist, damals vornehmlich an die Bühnenkunst gedacht, die durch Täuschung Wahrheit vermittelt. Wie vieles bei Heraklit klingt auch dies mysteriös und kryptisch, aber Sinn macht es, ja sogar einen Sinn, der nicht auf der Grundlage von Realem und Abbild gründet. Im Gegenteil. Mit dem Denken von Heraklit eröffnet sich überhaupt ein Sinnbegriff und damit ein Kunstbegriff, der bis heute Bestand hat. Wenn Kunst nicht Realität abbildet, wenn Kunst nicht jene täuscht, die nichts wissen, sondern gerade „solche täuscht, die es wissen“, dann verlassen wir ein allzu einfaches Repräsentationsmodell in Richtung eines, in dem Wissen nicht mehr Wirklichkeit abbildet.
Die Menschen im Theater wussten, dass das Theater täuscht, den
Olymp nicht abbildet, dass die Schauspieler in ihren Handlungen etwas
darstellen, was sie selbst nicht sind und was so auch im Olymp nicht
stattfindet. Sie wussten von der Differenz in der Vermittlung und vom
Widerspruch im Realen. Diesem Widerspruch folgte Heraklits für
uns oft enigmatisches Denken überall hin.
Die Lyra und der
Bogen taugen nur deshalb für die Klangerzeugung und das Pfeile
schießen, weil die Saiten und die Sehne die
auseinanderstrebenden Hölzer in entgegengesetzter Richtung
zusammenzwingen. Das Feuer, eines der vier Elemente des Empedokles
und des Aristoteles, zitiert Heraklit geradezu als ein Paradebeispiel
für den Gedanken der Einheit des Gegensätzlichen. So sehr
das Feuer vereint, neues entstehen lässt wie etwa die
hochentwickelten Statuen und Gegenstände aus Bronze, so sehr
trägt es auch Vernichtung oder Zerstörung. Gut und Übel,
Gutes und Böses, Wahrheit und Täuschung, alles in der Welt
beruht auf Gegensätzen und diese sind eins. Nichts neues
entsteht, ohne Zerstörung, nichts Gutes ohne Überwindung
des Übels, keine Heilung durch die ärztlichen Künste,
ohne Schnitt, Qual und giftige Gaben.
In seinem berühmten Satz: Man könne nicht zweimal in denselben Fluss steigen, weil der Fluss nie derselbe ist, sehen viele, spätestens seit Nietzsche, den Denker des Werdens. Das aber ist falsch. Heraklit ist der Denker der Dialektik. Er hat die Vielfalt und ihre Erscheinungen (Werden, Veränderungen) auf den Widerspruch reduziert. Aber gleichzeitig hat er die Erinnerung an das Werden wachgehalten und als Dialektik für uns in seinen schriftlichen Fragmenten aufgehoben. Mit Heraklit erinnert sich das Denken an sein fast schon Verlorenes, das Werden und Vergehen. Denn nichts anderes ist Dialektik, als diese Erinnerung an etwas, von dem sie aber allenfalls noch narrative Restposten erzählt. Gleich dem leisen Wellenschlag eines Baches von weit her. Eine Erfahrung des Werdens aber ist dies nicht. Dort, wovon die Dialektik ausgeht, bevor sie im Widerspruch im Begriff sich wiederfindet, treffen aber durchaus Erfahrungen aufeinander, steigt man ein in einen Fluss, hört und sieht man die Wahrheit in der täuschenden Darstellung in der Orchestra, erlebt die Dekonstruktionen der Künste, ist der Krieg der Vater aller Dinge. Dies meint dieser oft missverstandene Satz und beileibe keine preußische Militärdoktrin.
Was aber Heraklits Vermächtnis ist und das besonders in seinen Darlegungen zur Kunst am deutlichsten mitschwingt, ist, dass im Denken der Mensch auf etwas hinausgreift oder wie Heidegger formulierte, in etwas anderem als dem bloß Seienden hinausgehalten ist. Dies bedeutet Transzendenz. Und zwar fundamental, noch bevor Religionsphilosophie sich in diesen Begriff eingenistet hat. Auch geht diese Auffassung an Platon vorbei, streift seine allenfalls. Denn nicht auf die transzendenten Ideen von Gut und Böse, Wahrheit und Täuschung etc. ging die Handlung des antiken Bronzegießers, sondern auf den fertigen Guss, auf das Kunstwerk. Denken greift demnach nicht nur über sich selbst hinaus auf Ideen, sondern kann auch die Vorstellung eines Kunstwerkes materialisieren. Prinzipiell.
Heraklits philosophischen Fragmente haben Hegel, Marx, Nietzsche, Heidegger, Sartre, Deleuze, um nur einige zu nennen wegen dieses Gedankens der Transzendenz – heute sprechen wir eher von Transzendierung – inspiriert. Wegen einer Transzendenz, die nicht nur im Denken selbst liegt, sondern den schöpferischen Akt menschlicher Praxis, hier Kunst, gleich mit einbezieht.
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